Glück, Stolz und Sultan

Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind (Heiner Müller)

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Auf dem Kleinengstinger Friedhof liegen Glück und Stolz dicht beieinander. Ich gehe über den Friedhof und frage mich, ob man ein Dorf über seine Toten kennen lernen kann. Als ich vor der Blasius-Kirche stehe, gedenkt ein Stein der Toten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ob es irgendwo auch noch Verweise auf den Dreißigjährigen Krieg gibt? Nach dessen Ende zogen viele Schweizer hierher, erzählte man mir. Erkennt man ihre Nachfahren wohl noch an ihren Namen? Liegen sie auf diesem Friedhof oder dem Großengstinger?

In der Blasius-Kirche bewundere ich die Dekoration. Selten für eine Dorfkirche, aus dem Rokoko, lese ich. Stolz kann Kleinengstingen darauf gewiss sein. Und Großengstingen auf die St. Martinskirche.

Das dritte Mal bin ich nun also auf der Alb, um vier Wochen lang die Kunstprojekte des LTT zu begleiten und in jeweils vier Wochen Land und Leute kennen zu lernen. Meine erste Station war Winterlingen. Beim zweiten Mal hatte ich in Winterlingen und Engstingen zu tun, war ca. 10 Tage im Engstinger Hof untergebracht, im katholischen Großengstingen also. Diesmal wohne ich im evangelischen Kleinengstingen. Eine Frage beschäftigt mich. Gehören Rivalitäten zwischen Protestanten und Katholiken inzwischen der Vergangenheit an? Im Studium Generale an der Universität Tübingen hält Herr Dr. Eberhard Fritz, Archivar des Hauses Württemberg Altshausen, einen Vortrag: Reformation auf dem Land – Protestanten und Katholiken auf der Schwäbischen Alb (1534 – 1648). Ich kontaktiere ihn – er hat vor Beginn der Vorlesung kurz Zeit für ein Gespräch. Also fahre ich nach Tübingen.

Ich treffe zeitig ein, um noch die Stiftskirche besuchen zu können. Herzog Ulrich ist hier bestattet. Über sein Projekt Reformation könnte er mir gewiss viel berichten. Aber ich komme nicht bis zu seinem Grab – Baustelle. Also verlasse ich die Kirche nach einem kurzen Rundgang und gehe zum Kupferbau in der Hölderlinstraße, um dort auf den Redner der Stunde zu warten.

Herr Dr. Fritz ist ein freundlicher Herr, der seine Frau und seinen Sohn vorausschickt, um mir auszurichten, dass er sich einige Minuten verspäten wird. Wir kommen ins Gespräch. Seine Frau ist Pfarramtssekretärin. Sein Sohn studiert Evangelische Theologie. Als Herr Dr. Fritz eintrifft, liegt eine Frage an den Kirchenhistoriker nahe: „Nein, nein“, lacht er. „Da gibt es keine Familientradition. Da hat keiner von oben runter geguckt und gesagt, weide meine Schafe.“ Keine Pfarrer in der Familie. Auf der Alb, heißt es nachher in seiner Vorlesung, habe es irgendwann Dynastien von Pfarrern gegeben. Die ersten evangelischen waren noch nicht so sattelfest in ihrer Lehre. Und dann gab es das Bedürfnis, das Neue weiter zu geben. Nach dem heutigen Umgang gefragt, winkt Herr Dr. Fritz ab. Der Dreißigjährige Krieg sei dem Christentum doch eine Lehre gewesen. Man ginge doch nicht mehr in der Form aufeinander los. „Das Jubiläum zur Reformation müsste aber eigentlich eine Bestandsaufnahme auch für die protestantische Kirche sein“, sagt er dann. Und dass ihm manches viel zu wolkig sei. „Viel zu sehr die große Versöhnung.“ Ich frage ihn, was er davon hielte, wenn katholischer und evangelischer Pfarrer gemeinsam ein Gotteshaus „bespielten“. Könnte das nicht sinnvoll sein bei schrumpfenden Gemeinden? „Wissen Sie, davon halte ich nichts. Es gibt ja Unterschiede. Und die sind doch auch gut. Kooperationen finden ja ohnehin statt – aber Konkurrenz belebt doch auch das Geschäft. Das sehen Sie ja auch an Deutschland insgesamt. Einiges funktioniert hier doch ganz anders als in zentralistischen Staaten. Wir sind eine Konsensgesellschaft. Da muss immer wieder neu ausgehandelt werden.“

In Winterlingen wurde mir erzählt, dass der evangelische und der katholische Pfarrer Konsens empfanden, wenn es um den Sexualkundeunterricht in der Schule ging. Gemeinsam stiegen sie in einen Bus nach Stuttgart, um zur Demo gegen den Bildungsplan zu fahren.

Ob es auch anderes gibt, was man auf der Alb in Sachen christlicher Glaube gemeinsam angeht? Engstingen erscheint mir aufgeschlossener als Winterlingen. Das mag an seiner Lage liegen. Und mit den neuen muslimischen Mitbürgern auf der Haid kommen auf beide Gemeinden neue Fragen zu. Der Winterlinger Mesner litt geradezu darunter, Menschen muslimischen Glaubens nicht ohne Sarg bestatten zu können. Zwar ist die Sargpflicht in Baden-Württemberg aufgehoben – aber die Winterlinger Gemeinde kann sich keine teure Leichenwaschanlage leisten.

Und so stehe ich nach meinem Ausflug nach Tübingen sinnierend wieder auf dem Kleinengstinger Friedhof und frage mich, ob neben Glück und Stolz irgendwann auch ein Sultan liegen wird. Und wie er dann wohl zur Ruhe gebettet sein wird.

 

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